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Bericht vom dritten Netzwerktreffen in Darmstadt

Am 04.11.21 & 05.11.21 fand das von Prof. Dr. Nina Janich und Maike Sänger (TU Darmstadt) organisierte 3. Arbeitsgruppentreffen MWissFo zum Thema „Multimodalität in der zielgruppenspezifischen Wissensvermittlung“ als digitales Format statt.

 

Nach einer Begrüßung von Prof. Dr. Nina Janich eröffnete Prof. Dr. Torsten Schäfer die Veranstaltung mit einer Keynote zum Thema „Natur-/Klimakommunikation: Situationsanalyse und Zielgruppenbezüge“. Torsten Schäfer ist Autor, Umweltjournalist und Wildnispädagoge sowie Professor für Journalismus und Textproduktion an der Hochschule Darmstadt und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der internationalen Journalismusforschung zu den Themen Umwelt, Klima und mediale Nachhaltigkeit. In seinem Vortrag betont er die Relevanz der ethischen Grundlage, auch in Bezug auf Narrative und Sprache, sowie die Notwendigkeit, die eigene Arbeit mit Blick auf die historische Weichenstellung zu hinterfragen. Er begreift Nachhaltigkeit als einen universellen Wert und konstatiert die Ausdifferenzierung des Systems sowie das vermehrte Auftreten vieler wissbegieriger Gruppen, die neue Ansprüche an die Natur- und Klimakommunikation stellen. Gefordert sind mehr Personalisierungen durch Vorbilder, mehr Dialog auf Augenhöhe, mehr Emotionen und Geschichten statt der reinen Wissensvermittlung. Es bedarf außerdem einer lebensweltlicheren Kommunikation, der Darbietung von Handlungsmöglichkeiten und Lösungen sowie einer regionalen bzw. lokalen Perspektive. In seinem Forschungsprojekt „Klimageschichten“ widmete er sich der Analyse von drei unterschiedlichen klimajournalistischen Erzählarenen und plädiert dafür, den Klimawandel nicht als geschlossenes Thema, sondern als Dimension zu verstehen, um den Diskurs – auch mit Blick auf die Zielgruppen – öffnen zu können. Das Thema muss von unten gedacht werden, so Torsten Schäfer: „Die Klimadimension setzt sich wie ein Dach auf die vorhandenen Problemsäulen, verstärkt sie und bringt sie auch in die Interaktion“. Wichtig ist, sich mit den einzelnen Zielgruppen auseinanderzusetzen und ihre Sprache zu berücksichtigen, um überhaupt einen Diskurs eröffnen zu können. Für eine entsprechende (An-)Sprache spielen außerdem lokale Bezüge, eine experimentelle Haltung und verschiedene Wissens- und Erfahrungsnormen eine bedeutende Rolle.

 

Jan Engberg, Professor für Fachkommunikation an der Universität Aarhus, lieferte anschließend mit seinem Vortrag „Wie umfassend und komplex ist das in Erklärfilmen zum Recht multimodal vermittelte Fachwissen? Vergleich nach Zielgruppen und Absendern“ eine rechtswissenschaftliche Perspektive auf Zielgruppen. Da das Videoformat vermehrt zur Vermittlung von Fachwissen eingesetzt wird und die Vermittlungsqualität Auswirkungen auf Image, Vertrauensförderung und Legitimität haben kann, wirft Jan Engberg insbesondere die Frage nach den Funktionen von Multimodalität auf. Im Rahmen der an Peirce angelehnten Beschreibungskategorien Abbildung, Diagramm und Metapher unterscheidet er vier Stufen der Erklärungstiefe: Nicht-kausale Darstellung (Beschreibung von Elementen), Kausale Relevanz (Darstellung von Elementen als kausal miteinander verbunden), Kausale Kraft (Wissen über die kausale Rolle des Elements) und Kausales System (kausale Strukturen auf mehreren Ebenen). Da Recht erst durch Kommunikation entsteht und somit der verbale Modus dominant ist, sollte die (ggf. ergänzende) Wirkung anderer Modi untersucht werden. Anhand zweier Beispielvideos zum Erbrecht sowie zum EuGH widmete sich Jan Engberg der Frage, inwiefern Multimodalität zur Möglichkeit beiträgt, auf verschiedenen Komplexitätsstufen Wissen aufzubauen. Während die drei Beschreibungskategorien nach Peirce im Erklärvideo zum Erbrecht die verbalen Aussagen erweitern und konkretisieren, um Bürger:innen die nötigen Informationen zu liefern, kann im EuGH-Video zusätzlich zur Aufklärungsfunktion eine PR-Orientierung im Sinne von Imagearbeit festgestellt werden. Fazit: In beiden Fällen wird das Medium Erklärvideo als Einführung genutzt, um Interesse zu wecken, und „visuelle Mittel werden primär zur Emotionalisierung und nicht zur epistemischen Vermittlung eingesetzt“.

 

Den Abschluss des ersten Tages machten Dr. Philipp Niemann, promovierter Medienwissenschaftler und wissenschaftlicher Leiter des NaWik, und Dr. Daniel Pfurtscheller, Universitätsassistent und Post Doc am Institut für Germanistik an der Universität Wien, mit ihrem Vortrag: „Von Neutrinos und Eiskugeln. Multimodale Wissenskommunikation in Virtual-Reality-Umgebungen aus produkt- und rezeptionsanalytischer Perspektive“. Dem Produkt der 360-Grad-Videos als non-lineare und interaktive Medienangebote widmete sich Daniel Pfurtscheller zunächst aus produktanalytischer Perspektive und berief sich auf den Canvas-Begriff nach Wildfeuer et al. (2020), um die Besonderheiten der multimodalen Machart zu beschreiben. Interessant ist bei den verschachtelten Canvas-Formen (Umschauen, Umhören, Bewegen in der VR-Umgebung sowie aktive Nutzung des Tablets für begleitende Informationen) auch die kommunikative Situation als virtuelle Führungssituation, in der Fragen nach den Zeichen(re)produzierenden und -rezipierenden aufgeworfen werden. Aus der rezeptionsanalytischen Perspektive führte Philipp Niemann in zwei verschiedene Rezeptionsmuster ein, die mithilfe einer eigenen Eye-Tracking-Konstruktion festgestellt werden konnten: Während Proband:innen beim klassischen Rezeptionsmuster visuell zunächst den Vortragenden fokussierten und diesen bei der anschließenden Beschäftigung mit dem Tablet wie eine Off-Stimme wahrnahmen, wurde in einem zweiten Rezeptionsmuster eine Situation konstatiert, die es in der Realität nicht geben kann: So positionierten einige Proband:innen das Tablet so, dass sie auch während der Videorezeption noch Blickkontakt zum Vortragenden halten konnten. Interessant ist jedoch, dass die VR-Umgebung weder beim wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn noch bei der diesbezüglichen Selbsteinschätzung die besten Ergebnisse erzielt; in beiden Fällen steht die PowerPoint-Präsentation an erster Stelle.

 

Der zweite Tagungstag startete statt mit einer Keynote von Annette Leßmöllmann, die ausfallen musste, mit dem Vortrag „Multimodale Intertextualität und Readressierung in populärwissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln“ von Simone Heekeren, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistische Linguistik der RWTH Aachen Einblicke in ihre Dissertation gab, in der sie sich mit multimodalen Texten in der populärwissenschaftlichen Kommunikation auseinandersetzt. Im Rahmen eines beispielhaften populärwissenschaftlichen Zeitungsartikels aus Spektrum zeigte sie anhand von im wissenschaftlichen Kontext verwendeten Grafiken einige Verfahren der Readressierung auf. Während sie das spezifische Format als statisch, modular, non- bzw. teillinear, multimodal, intertextuell und semiotisch komplex versteht, definiert sie die Zielgruppe nach Liebert (1996) als „relative Laien“. Konstitutive Textsortenintertextualität und hohe Variabilität der Intertextualitätsmarkierung beschreibt Simone Heekeren als Spezifika des populärwissenschaftlichen Artikels und erweitert ihre Analysefragen zur Interpiktualität um die Frage nach transkriptiven Verfahren der Readressierung und Rekontextualisierung von Bildmodulen. Anhand einer konkreten Grafik aus dem Artikel arbeitet sie mit Rückgriff auf Kategorien wie Form, Struktur, Größe, Typografie und Farbe Unterschiede zur Originalgrafik heraus und stellt Annahmen für (sprachliche) Strategien der Wissenschaftspopularisierung auf, die unter anderem die Bereiche Komplexitätsreduktion, Personalisierung und Narrativierung, Dramatisierung und Emotionalisierung sowie Erläuterung von Fachtermini und Methoden umfassen. Ziel ihrer Arbeit ist ein flexibles Beschreibungsmodell für intra- und intertextuelle multimodale Transkriptionsverfahren der visuellen Vermittlung, Readressierung und Rekontextualisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

 

Zum Abschluss der Vortragsreihe referierte Martin Luginbühl, Professor für deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Basel, zum Thema „Medienlinguistik kontrastiv – Journalistische Kultur(en) als multimodale Hervorbringung“. Die kontrastive Medienlinguistik ist im Kontext der kulturanalytischen Linguistik dafür prädestiniert, die Medialität und Materialität von Kultur zu analysieren. Martin Luginbühl geht von einem Wechselspiel zwischen journalistischer Kultur und Berichterstattung aus: Während journalistische Normen und Werte in Formen der Berichterstattung zum Ausdruck gebracht werden, beeinflussen diese Normen und Werte wiederum die Textausgestaltung der Berichterstattung. Anhand von Beispielen aus der Schweizer Tagesschau – einem Massenmedium, dem Luginbühl „soziale Para-Interaktionsmuster“ zuschreibt – zeigt er Unterschiede der Nachrichtenpräsentation (Anmoderation) im Zeitverlauf auf. Während das Repertoire an Textsorten von 1968 bis heute relativ stabil geblieben ist, können starke Differenzen der Anmoderation konstatiert werden. So herrscht zu Beginn eine maximale Publikumsdistanz, die sich durch markierte Wortreihenfolgen, einen neutralen Wortschatz, eine monotone Melodie sowie eine statische Kameraeinstellung in einem „Nicht-Studio“ auszeichnet. Erst in den 1980er-Jahren wird die Nachrichtenpräsentation informeller. Die Berichterstattung, die nun auch erstmals von Frauen durchgeführt wird, ist außerdem quellenorientiert – eine Veränderung, die aufgrund negativer Reaktionen wieder verworfen wird. Während bis 1990 ein engagierter Erzählstil herrscht, wird die Berichterstattung im Anschluss neutraler und allgegenwärtiger; es sind außerdem erstmals Einblendungen im Hintergrund zu beobachten. Im weiteren Verlauf werden sowohl das Studiosetting als auch die Anmoderationen lebendiger: Die Moderator:innen treten als freundliche Gastgeber:innen auf und seit 2005 lässt sich neben der dynamischen Kameraführung auch eine multimodale Überlagerung von Anmoderation und Korrespondenzberichten konstatieren. So bestätigt sich die These, dass die Para-Interaktion multimodal konstituiert wird und sich im Zeitverlauf kontinuierlich intensiviert.