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Mitgliedervorstellung: Matthias Meiler

1. Was interessiert dich speziell am Phänomen der Multimodalität?

Für mich als Linguist ist die Multimodalitätsperspektive eine der Möglichkeiten, um Sprache daraufhin zu befragen, wie autonom sie eigentlich (nicht) ist bzw. – umgedreht – auf Basis welcher nicht-sprachlichen Voraussetzungen sie eigentlich im Stande ist, als Mittel des verändernden Eingreifens in die Welt, also als Kommunikationsmittel, zu dienen. Dies stellt m.E. nicht nur eine Herausforderung für Kommunikationsanalysen dar, sondern ist gleichermaßen auch eine Herausforderung (und vielleicht die größere) für die grammatische Beschreibung von Einzelsprachen, der sich u.a. Ellen Fricke (etwa 2012) gestellt hat.

Das hört sich vermutlich komplizierter an, als es im Grunde ist. Dabei ist das Erkenntnisinteresse eigentlich recht simpel und könnte auch so formuliert werden: Ist die Beschreibung von Einzelsprachen (oder konkreter Strukturen von ihnen) darauf reduzierbar, dass sie – bspw. in der Syntax – lediglich Beziehungen mit sich selbst eingehen: wie etwa die Kongruenzbeziehungen zwischen Subjekt und Prädikat oder Rektionsbeziehungen zwischen Präpositionen und Nominalphrasen oder zwischen Verben und ihren Komplementen. Auf die Beschreibung solcher Beziehungen konzentriert sich die Grammatikschreibung noch maßgeblich, was bekanntlich u.a. auf den written language bias (Linell 2005) zurückzuführen ist, der in der Folge zu einem fractioned approach to behavior (Pike 1967) führt, anstatt ganzheitliche Perspektiven für möglich und nötig zu halten.

Nur wenig wird bisher danach gefragt, in welcher Weise Sprachen – für die sukzessive Entfaltung ihrer Strukturen in der Kommunikation – anderer Ressourcen (man könnte sagen: Modes) vielleicht konstitutiv bedürfen oder aber optionale Integrationspunkte für andere Ressourcen systematisch ausgebildet haben. Immerhin wird weithin anerkannt, dass Sprachen und ihre Strukturen in und durch Kommunikation entstehen. Wenn Kommunikation aber unhintergehbar multimodal ist, weil Sprache eben nie pur vorkommt (Holly 2010), erscheint es wenig plausibel anzunehmen, dass die Strukturen, die aus multimodalen Kommunikationsprozessen hervorgehen, strikt monomodal verfasst sein sollen.

Sprache, in meinem Fall das Deutsche, daraufhin zu befragen, wo für ihre Beschreibung eine monomodale Perspektive zu kurz greift, ist seit einiger Zeit das Erkenntnisinteresse, das ich auf unterschiedlichen Ebenen der Sprachbeschreibung verfolge bzw. verfolgt habe (etwa für die vermeintlich unscheinbaren Ausdrücke und und aber (Meiler 2019) sowie für das Erzählen als Großform kommunikativen Handelns (Meiler 2021). Unabhängig vom Umfang der untersuchten Gegenstände ist dabei insbesondere immer im Fokus, wie mit ihnen Kommunikation als Prozess in der Zeit praktisch organisiert wird. Dies ist für ganze Texte und Interaktionen ebenso relevant wie für einzelne sprachliche Mittel wie etwa und. Vor allem deswegen bedarf es nicht nur einer pragmatischen Kommunikationsanalyse, sondern auch einer – wie ich sie nennen würde – praxeologischen Grammatik.

Abb.: Die Abbildung gibt im Anschluss an Hoffmanns (2003) funktionaler Syntax einen illustrativen Einblick in die (multimodale) Arbeit am Mentalen, die von Interaktant*innen unter Kopräsenzbedingungen gemeinsam geleistet wird, während diese kurze Wegbeschreibung mit verhältnismäßig unauffälligen sprachlichen Mitteln, aber bspw. auch gestisch, gegeben wird. Das Beispiel entstammt Fricke (2012).

2. Was hat das aber mit Wissen zu tun?

Die einfache Antwort wäre: Beinahe jede Kommunikation hat mit Wissen zu tun, sonst würde sie schlicht nicht stattfinden. Es sind nur sehr spezielle und spezifische Kommunikationsanlässe, bei denen die Rezipient*innen über die Inhalte bereits vollständig im Bilde sind. Aber selbst dort müssen Wissenselemente situativ aktiviert und interaktiv koordiniert werden und seine Struktur füreinander wahrnehmbar organisiert werden. Sprache – vollumfänglich – als Mittel zum verändernden Eingreifen in die Welt zu begreifen, macht m.E. eigentlich nur dann wirklich Sinn, wenn man ernst nimmt, dass mit jedem noch so kleinen sprachlichen Mittel aktiv in das Wissen und Denken der anderen eingegriffen und dieses kommunikativ bearbeitet wird. Wissen ist so gesehen also immer im Spiel.

Eine besondere Herausforderung nicht nur für die Analysierenden, sondern genauso auch für die Akteur*innen ist dann gegeben, wenn die Wissensdifferenzen nicht trival, sondern eminent sind. Die Übergänge sind hier sicher fließend, aber unser Netzwerk interessiert sich natürlich maßgeblich für den zweitgenannten Pol der Skala, also für jene Kommunikationsanlässe, in denen bereits aufseiten der Akteur*innen eine Orientierung auf die Vermittlung von Wissen zu erkennen ist und diese in Institutionen, Unternehmen, Organisationen und Redaktionen als u.a. kommunikative Aufgabe begriffen und bearbeitet wird.

Mit der Multimodalitätsperspektive ergeben sich für diese Zusammenhänge unterschiedliche Fragehorizonte. Mich interessiert dabei v.a. die Frage danach, wie sprachlich konstituierte Wissensstrukturen in diversen Wissensformaten mit anders verfassten Wissenstypen zusammenwirken, wie sie sich wechselseitig hervorbringen, beeinflussen und ergänzen. Die anthropologische und soziologische Diskussion hat in der jüngeren Vergangenheit das Augenmerk auf jene Wissenstypen gelegt, welche jenseits des propositionalen Knowing-How liegen und die maßgeblich durch unseren praktischen und vielfach praktisch geschulten Umgang mit der Welt und dabei bspw. durch die einzelnen Sinne bestimmt ist. Man spricht dann etwa vom Hörwissen, von skilled listening (Willkomm 2016) oder skilled visions (Grasseni 2018).

Wie diese unterschiedlichen Typen impliziten Wissens (Polanyi 1985) in multimodalen Kommunikationsprozessen im Verein mit Sprache an der Wissensvermittlung mitwirken und wie sie ineinandergreifen, scheint mir eine nicht nur theoretisch, sondern auch methodisch zu bewältigende Herausforderung zu sein.

Literatur:

Fricke, Ellen (2012): Grammatik multimodal. Wie Wörter und Gesten zusammenwirken. Berlin, New York: de Gruyter.

Grasseni, Cristina (2018): Skilled Vision. In: Callan, Hilary (Hg.): The International Encyclopedia of Anthropology: Wiley, S. 1–7.

Hoffmann, Ludger (2003): Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren. In: Hoffmann, Ludger (Hg.): Funktionale Syntax. Die pragmatische Perspektive. Berlin, New York: de Gruyter, S. 18–121.

Holly, Werner (2010): Besprochene Bilder – bebildertes Sprechen. Audiovisuelle Transkriptivität in Nachrichtenfilmen und Polit-Talkshows. In: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin: de Gruyter, S. 359–382.

Linell, Per (2005): The Written Language Bias in Linguistics. Its nature, origins and transformations. London: Routledge.

Meiler, Matthias (2019): Zur Überschätzung der formalen wie funktionalen Spezifik der Ausdrücke UND und ABER. In: Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis und Dokumentation 47 (3), S. 220–238.

Meiler, Matthias (2021): Story-telling in instant messenger communication. Sequencing a story without turn-taking. In: Discourse, Context & Media 43 (October 2021), S. 100515. DOI: 10.1016/j.dcm.2021.100515.

Pike, Kenneth L. (1967): Language in relation to a unified theory of the structure of human behavior. The Hague, Paris: Mouton & Co.

Polanyi, Michael (1985): Implizites Wissen. Erstausgabe 1966. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Willkomm, Judith (2016): skilled listening. Zur Bedeutung von Hörpraktiken in naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozessen. In: Symanczyk, Anna/Wagner, Daniela/Wendling, Miriam (Hg.): Klang – Kontakte. Kommunikation, Konstruktion und Kultur von Klängen. Berlin: Reimer, S. 35–56.